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Channel: Kommentare zu: Peter Novick über Daniel J. Goldhagen
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Von: rhizom

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Du verstehst den Punkt miss. Es geht nicht darum, dass die Leute das nicht freiwillig getan hätten – so viel weiß man seit Browning: dass man sie bisweilen sogar ausdrücklich gefragt hat und kein Fall bekannt ist, in dem eine Verweigerung der Beteiligung am Massenmord irgendwelche Sanktionen nach sich gezogen hätte.

Es geht vielmehr darum, dass sie sich genauso mörderisch, zynisch und brutal gegenüber den nichtjüdischen Opfern des NS verhalten haben. Ob “Zigeuner”, sowjetische Politkommissare, Juden oder sogar x-beliebige Zivilisten (wie im Rahmen des Partisanenkriegs): es war für die Täter im Grunde egal, wer ihre Opfer waren – wenn es sich auch hauptsächlich um Gruppen “rassistisch Entwerteter” handelte.

Von dieser Feststellung ausgehend, muss man ganz andere Fragen stellen. Man kann nicht, wie Goldhagen, länger davon ausgehen, dass ein emotionaler, hasserfüllter “eliminatorischer Antisemitismus” der Hauptgrund dafür war, warum die Täter mordeten. Denn sie massakrierten mit derselben zynischen Enthemmung und völligen moralischen Indifferenz auch zig Millionen Nicht-Juden.

Ein “unverhüllter Sozialdarwinismus” (Mommsen), gepaart mit der totalen Entrechtung der Opfer und der Anweisung (z.B. im “Barbarossa-Erlass” vom 13. Mai 1941), solche Taten, egal gegen wen sie begangen werden, nicht mehr unter Strafe zu stellen, solange sie sich nur irgendwie ideologisch rechtfertigen lassen, ist als Ausgangspunkt für die zunehmende Mordbereitschaft mit großer Sicherheit entscheidender gewesen als irgendwelche persönlichen antijüdischen Ressentiments.

Hans Mommsen, an dem du deine These über deutsche Historiker überprüfen kannst, hat sich dazu ausführlich eingelassen:

Die auf die Befunde über die Angehörigen des Polizeibataillons gestützte Grundannahme Goldhagens, daß die Vollstrecker durchweg aus einem haßerfüllten, emotionsgeladenen “eliminatorischen” Antisemitismus heraus gehandelt hätten, ist nach einer erneuten Überprüfung der Quellen, so durch Ruth Bettina Birn, schwerlich aufrechtzuerhalten. Zwar ist Goldhagen darin zuzustimmen, daß die “Endlösungs”-Politik mit unerhörten Gewaltmethoden verbunden war, die von bewußten Quälereien, zynischer Herabsetzung der verfolgten Juden und Drangsalierungen aller erdenklichen Art bis zum sadistischen Mord reichten. [...]

Indessen war die Anwendung barbarischer Methoden nicht auf den Bereich der Judenverfolgung beschränkt. Von allen verfolgten Gruppen waren Juden zwar auf die unterste Stufe gedrängt, aber im Prinzip wurden alle ausgegrenzten Gruppen, denen jeglicher Rechtsschutz vorenthalten wurde, zu Objekten hemmungsloser Gewalt. In allen diesen Fällen war Sadismus an der Tagesordnung, aber er stellte, was die Triebkraft der Verfolgung anbetraf, einen eher peripheren Faktor dar. Das entscheidende Merkmal des vom NS-System eingeleiteten Vernichtungsprozesses besteht in der Abwesenheit jeglicher Form von Spontanität.

[...]

Das barbarische Vorgehen der Wehrmacht gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen, die man zu Hunderttausenden verhungern und ohne jegliche sanitäre Einrichtungen vegetieren ließ, um dann deren “Vertiertheit” und Kannibalismus zum Beweis des “Untermenschentums” anzuprangern, ist in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie die Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung beim Kampf gegen Partisanen, dies nicht nur in Rußland, sondern auch in Italien und Frankreich. Die brutalen Methoden der Kriegsführung im Osten waren von der militärischen Führung im Rahmen des “Rassenvernichtungskrieg”-Konzeptes bewußt akzeptiert und mit dem Komplex der verbrecherischen Befehle umgesetzt worden.

[...]

Der Faktor ideologischer Indoktrination trat hinzu. Die nationalsozialistische Rassenideologie scheute vor der “Ausmerzung rassisch und biologisch schädlicher Bestandteile des Volkskörpers” nicht zurück. Von der Euthanasie führte ein gerader Weg zur Vergasung arbeitunfähiger Juden und Kriegsgefangener. Aber die sich darin ausdrückende Menschenverachtung beschränkte sich nicht auf die rassisch ausgegrenzten Volksteile, sondern richtete sich ebenso auf Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Slawen. Sie traf schließlich auch jene arischen Volksgenossen, die wegen Krankheit und Alter als “unnütze Esser” betrachtet wurden.

[...]

Die Eingewöhnung von Gewalt ergab sich nicht zuletzt aus dem Wegfall effektiver Sanktionsmechanismen, so daß den fanatischen Scharfmachern im Alltag die Initiative überlassen blieb. Daß sich die Unterführer des Regimes immer tiefer in eine unkontrollierte und kriminelle Gewaltanwendung verstrickten, hing sicherlich auch mit ihrer charakterlichen Disposition, sozialen Herkunft und beruflichen Karriere zusammen. Unter normalen Bedingungen – das lehrt die unscheinbare biographische Rolle, welche die Täter in der deutschen Nachkriegsgesellschaft einnahmen – wären sie zwar nicht zu Waisenknaben, aber auch nicht zu Verbrechern geworden.

Aus prosopographischen Untersuchungen ergibt sich ein einheitlicher Täter-Typus, der von den Verhältnissen geformt wurde und keineswegs, wie Goldhagen behauptet, von vornherein auf Mord ausgerichtet war. Die Mechanismen, die zu der psychischen und sozialen Deformierung der meisten Chargen des NS-Regimes beitrugen, bestanden nicht zuletzt in einer Atmosphäre, die durch ständige Rivalität untereinander, stoßweisen Aktionismus und das Bemühen geprägt war, sich durch besonderen Eifer hervorzutun. [...] Die Verfestigung der Vorurteile gegen die Opfer stellte vielfach nur noch einen automatischen Reflex dar, der die Auslöschung von Menschenleben als alltäglichen Vorgang wahrnahm.

Es ist schwierig, eine angemessene Antwort auf die Frage zu finden, warum das Regime in einem Amoklauf sondergleichen jegliche moralische Hemmungen hinter sich ließ und mit dem “Holocaust”, mit der Ermordung von mehr als drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, mit der Politik der “verbrannten Erde” beim Rückzug der deutschen Verbände aus der Sowjetunion, mit der Ausschaltung des inneren Gegners in Liquidationen durch die Gestapo, den SD, Sondergerichte und fliegende Standgerichte eine Blutspur ohnegleichen in den eigenen Untergang nach sich zog [...]

Die Antwort auf diese Frage kann sich nicht mit dem Hinweis auf die mörderischen Elemente der nationalsozialistischen “Weltanschauung” begnügen. Es handelt sich vielmehr um eine kollektive Mentalität, die aus der Auslöschung der tradierten Normen und Verhaltenskodizes hervorging. An deren Stelle trat ein unverhüllter Sozialdarwinismus, gekoppelt mit einem Nietzscheanischen Willenskult und dem blinden Glauben an die Machbarkeit von Sachen. Die extreme Eskalation der Gewalt, die im “Holocaust” gipfelt, muß in diesen überindividuellen Zusammenhang gestellt werden.

– Hans Mommsen, Von Weimar nach Auschwitz (München: Ullstein, 2001), “Barbarei und Genozid”, 268-282.


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